Das Problem erkennen
Die meisten unserer Erzählerinnen schildern es als einen Prozess, bis ihnen klar wurde, dass sie eine Essstörung haben. Es gab nicht den einen Moment, der ihnen die Augen öffnete, sondern mal mehr und mal weniger Wahrnehmung für den Ernst der Lage. Viele erlebten das, was passierte, zunächst als positiv: Abzunehmen bzw. das Gewicht kontrollieren zu können, Komplimente von anderen zu bekommen, „das eigene Ding“ zu machen, das Gefühl, sich selbst im Griff zu haben oder eine Möglichkeit zum Umgang mit Gefühlen gefunden zu haben. Sie merkten erst langsam, dass sie mit dem Hungern, den Essanfällen oder den gegensteuernden Maßnahmen (wie Sport, Erbrechen) nicht mehr „einfach aufhören“ konnten (siehe Beginn der Essstörung, Gedanken und Gefühle in der Essstörung). Claudia Siebert sagt im Rückblick: „Und damals war mir ja noch nicht bewusst, dass ich mich damit selber umbringe. Damals war es eigentlich nur gut. Zu dem Zeitpunkt war es eine gute Sache.“
Manche Erzählerinnen beschreiben ihre Schwierigkeiten, sich einzugestehen, dass es sich bei dem, was sie erlebten, nicht einfach um eine „Lebenseinstellung“, eine „schlechte Angewohnheit“ oder eine „Marotte“ handelt, sondern um eine Krankheit. Einige erzählen von zwei Seiten, die sie in sich hatten: Der einen Seite war irgendwann klar, dass ein Problem vorliegt, während die andere weiterhin darauf bestand, dass alles in Ordnung ist oder bald vorübergehen wird.
Helene Weber hatte lange Zeit die Hoffnung, das Problem würde von selbst wieder verschwinden.
Martina Fuhrmann dachte anfangs, die Essstörung sei ein individuelles Problem, das nur sie betrifft.
Für viele der Erzählerinnen waren es schließlich konkrete körperliche Signale, an denen sie, wenn auch bisweilen nur momentan, erkannten, dass etwas wirklich nicht mehr stimmte (siehe Körperbild und körperliche Folgen). Andere bemerkten als erstes, dass ihre Stimmung oder ihr Wohlbefinden sich verändert hatte.
Katharina Wagner wurde aufgrund ihres niedrigen Gewichts depressiv.
Andere merkten, dass etwas aus dem Ruder gelaufen war, weil ihr gesamter Tag vom Essen bzw. nicht-Essen bestimmt war. Ihnen wurde klar, dass sie deshalb ihre Aufgaben in Schule, Ausbildung oder Arbeit nicht mehr erfüllen oder nicht mehr an sozialen Aktivitäten teilnehmen konnten. Mehrere Erzählerinnen erinnern sich an dem Moment, als sie merkten, dass sie die Kontrolle über ihr Essverhalten verloren hatten (siehe Gedanken und Gefühle in der Essstörung). Petra Kessler erzählt: „Ja da war ich in einer Phase, wo ich gedacht habe, das entgleitet mir alles. Ich kann nicht mehr aufhören. […] Ich habe gesehen, das ist nicht mehr nur noch ein Abnehmen, sondern ich habe Angst, jetzt zu sterben und kann trotzdem nicht essen. Das entgleitet mir jetzt alles total.“
Viele der Erzählerinnen erinnern sich, dass andere schon ein Problem erkannt hatten, während sie selbst noch der Meinung waren, alles sei in Ordnung. Carina Wintergarten erinnert sich, dass ihre Freundinnen vorschlugen, Essprotokolle zu erstellen. Im Vergleich merkte sie dann, dass sie tatsächlich viel weniger aß. Manche erzählen, dass der Austausch mit anderen Betroffenen ihnen die Augen für die eigene Situation öffnete. Heike Papst erkannte im Kontakt mit einer Selbsthilfegruppe, was ihr Problem ist.
Einige der Erzählerinnen machten die Erfahrung, von anderen (meist den Eltern) zu Beratungsstellen, Ärzten, Psychotherapeuten oder in eine Klinik geschickt zu werden (siehe Erfahrungen mit Behandlungen). Manche merkten an den Reaktionen dort, dass ihr Problem doch größer war, als sie es selbst eingeschätzt hatten. Von der „offiziellen Diagnose“ waren die wenigsten überrascht, weil sie im Grunde schon wussten, wie sie lauten würde. Laura Brunner war sogar froh, dass sich die Diagnose mit dem Krankheitsbild deckte, mit dem sie sich bereits identifizierte.
Lena Huber wurde in der Beratungsstelle klar, dass sie in die Klinik musste.
Miriam Baumann merkte erst an der Reaktion der Ernährungsberaterin, wie krank sie war.