Verheimlichen und Tricksen
Für die meisten der Erzählerinnen sind Heimlichkeit und Tricksen ein wesentlicher Bestandteil der Essstörung. Viele erzählen, dass lange Zeit überhaupt niemand von der Essstörung wusste, da sie nicht über sie sprachen oder sie sogar aktiv verheimlichten. Wieviel Lügen und Zeitaufwand damit verbunden war, erscheint für die meisten Erzählerinnen im Nachhinein unbegreiflich. Viele beschreiben eine dauernde Beschäftigung damit, Spuren zu beseitigen oder den Schein des „normalen“ Essverhaltens zu wahren, eine ständige Angst, dass jemand etwas mitbekommen könnte. Viele Erzählerinnen betonen, dass sie das Verheimlichen selbst nicht in Ordnung fanden, es jedoch – als sie in der Essstörung steckten – keine Alternative zu geben schien. Sie finden es wichtig, dass Familie, Freunde und auch Ärzte sich darüber im Klaren sind, wie sehr das Lügen und Vertuschen zu der Krankheit gehört – um mehr Verständnis zu haben, aber auch, um „hinter“ die ständigen Ausreden schauen und besser helfen zu können.
Die Erzählerinnen beschreiben, welche Ausreden oder Rechtfertigungen sie für die typischen Handlungen in der Essstörung (siehe Abnehmen, Essanfälle, Erbrechen) schon vorbrachten. Beispielsweise schoben sie vor, vegan zu sein, um nicht mitessen zu müssen oder nur ganz bestimmte Dinge zu essen. Andere Geheimhaltungsstrategien, die geschildert werden, umfassen: Früh aufstehen, um Sport zu treiben, bevor jemand anderes wach ist; im eigenen Zimmer in Tüten erbrechen und diese unbemerkt entsorgen; Orte aufsuchen, an denen man allein ist, um dem „Fressdruck“ nachzugehen und zu erbrechen; Essen auf dem Teller so arrangieren, dass es nach mehr aussieht, als es ist; in unterschiedlichen Supermärkten portionsweise einkaufen, damit nicht auffällt, wie viel es ist; soziale Esssituationen meiden, um nicht aufzufallen.
Als wichtigen Grund, die Essstörung zu verheimlichen, nennen viele der Wunsch, ihr ungestört nachgehen zu können und nicht von anderen gebremst zu werden. Manchmal führten gerade Versuche anderer, bestimmte Verhaltensweisen zu verhindern, zu größerer Heimlichkeit.
Auch im Kontakt mit professionellen Helfern spielte für viele das Verheimlichen eine Rolle. Einige der Erzählerinnen sagen, dass sie es ganz vermieden, zu Ärzten zu gehen, um sich keine Standpauke anhören zu müssen. Auch während Aufenthalten in der Klinik wurde häufig getrickst, um trotz der Therapien die Essstörung beibehalten zu können. Insbesondere die Essensvorgaben und das regelmäßige Wiegen werden als Anlässe genannt. Heike Papst schildert, dass es manchmal nur noch ein Kampf war: Wie kann ich jemanden austricksen, wie kann ich mich selbst belügen?
Einige der Erzählerinnen nahmen in Kauf, aufgrund des dauernden Tricksens die Klinik verlassen zu müssen (siehe Stationäre Klinikaufenthalte). Andere berichten von massiven gesundheitlichen Folgen. Carina Wintergarten trank so viel Wasser, um mehr Gewicht auf die Waage zu bringen, dass sie auf die Intensivstation musste, weil ihr Blut stark verdünnt war (siehe Körperliche Folgen).
Als weiterer Grund für die Heimlichkeit wird immer wieder genannt, nicht als „die Essgestörte“ abgestempelt oder plötzlich anders betrachtet werden zu wollen. Tanja Zillich will ihren Kindern nicht von der Essstörung erzählen, da sie Sorge hat, dass diese sie dann mit anderen Augen sehen. Laura Brunner beschreibt, dass sie nicht wollte, dass das Problem für andere real wurde, indem sie es aussprach. Andere betonen ihre Sorge, nicht mehr als stark wahrgenommen zu werden. Besonders im Kollegenkreis wurde die Erkrankung oft verheimlicht, da sie als Zeichen von Schwäche gesehen werden könnte. Für viele ist es wichtig, nach außen das Bild aufrecht zu erhalten, dass alles „normal“ ist. Einige empfanden insbesondere die „kranken“ Gedanken, die sie in akuten Phasen der Essstörung beschäftigten, als beschämend, und wollten sie deshalb verstecken. Viele der Erzählerinnen berichten, dass sie eine Menge Zeit damit verbrachten, anderen zu vermitteln, dass alles gut ist – und dass sie manchmal auch selbst daran glaubten. (siehe Gedanken und Gefühle in der Essstörung)
Alexandra Jung belog nicht nur die anderen, sondern vor allem sich selbst.
Einige erzählen, dass sie irgendwann richtig gut darin wurden, sich vor anderen zu verstellen. Manche der Erzählerinnen betonen, dass nur ein kleiner Kreis von engen Bezugspersonen von der Erkrankung wusste, und oft auch nicht alles oder nicht das ganze Ausmaß.
Die Erzählerinnen sagen, sie wollten verhindern, dass über sie geredet wird. Selbst diejenigen Erzählerinnen, die offen mit der Essstörung umgehen, sagen, dass den meisten Menschen in ihrem Umfeld auch im Nachhinein nicht klar ist, wie schlimm alles wirklich war, wie sehr die Krankheit ihre Gedanken und Gefühle tatsächlich bestimmte.
Häufig wird so etwas wie ein gegenseitiges Einvernehmen beschrieben. Die Erzählerinnen machen deutlich, wie viel Zeit und Energie sie dafür investierten, die Essstörung zu verheimlichen. Sie erleben jedoch auch, dass die anderen ihnen bereitwillig glaubten, weil sie froh waren, wenn alles in Ordnung war und sie sich keine Sorgen machen mussten.
Viele erzählen von dem Stress und Druck, den die Geheimhaltung erzeugte. Es wird deutlich, wie sehr die sozialen Beziehungen darunter litten. Die Essstörung wird als etwas beschrieben, das aktiv von allen anderen ferngehalten werden sollte, und dann aber auch gerade durch diese Heimlichkeit von anderen isolierte. Immer wieder schildern die Erzählerinnen auch, dass die Ausreden und das Lügen – z.B. gegenüber den Eltern oder den Partnern – ihnen ein schlechtes Gewissen machten.
Für manche der Erzählerinnen passt es überhaupt nicht zu ihrem Selbstbild, eine Essstörung zu haben. Helene Weber fand es schwierig, die Magersucht vor ihren Freunden einzugestehen, weil es überhaupt nicht zu ihrer Einstellung passt, sich einem gesellschaftlichen Schönheitsideal zu unterwerfen.
Manche der Erzählerinnen finden es gut, Freunde zu haben, die nichts von der Essstörung wissen. Einige bauten einen neuen Freundeskreis auf, in dem keiner etwas davon weiß, nachdem sie wieder Normalgewicht hatten. Sie beschreiben, dass sie sich freier fühlen und so gesehen werden, wie sie jetzt sind, ohne dass die Essstörung ein Thema ist. Manche haben das Gefühl, dass auch die anderen sich unbefangener verhalten können, wenn sie nichts über die Essstörung wissen.
Einige erzählen, dass die Heimlichkeit aufzugeben nicht nur bedeutete, vor anderen einzugestehen, dass es ein Problem gibt, sondern dies vor allen Dingen auch vor sich selbst zuzugeben. Das kann jedoch auch bedeuten, der Essstörung den „Zauber“ des Geheimnisses zu nehmen. Es kann ein erster Schritt zur Veränderung sein, die Essstörung vor sich selbst und anderen eingestehen zu können und das Verheimlichen und Tricksen aufzugeben.