Gedanken und Gefühle in der Essstörung
Viele unserer Erzählerinnen sagen, dass die Essstörung einen großen Einfluss auf ihre Gedanken und Gefühle nahm. Manche haben die Erfahrung gemacht, dass sie eine eigene Logik mit einer ganzen Welt von Gedanken und Gefühlen mit sich bringt. Einige der Erzählerinnen glauben im Nachhinein, dass die Krankheit auch deshalb so hartnäckig ist, weil sie sich von innen ganz anders anfühlt als sie von außen aussieht: Was von außen als „krank“ erscheint (zum Beispiel dauerndes Hungern) kann sich für die Betroffenen in den akuten Momenten als einzige Alternative anfühlen (zum Beispiel im Hinblick auf die massiven Schuldgefühle, die durch Essen entstehen würden).
Die Essstörung bestimmt Gedanken und Gefühle
Die Erzählerinnen sind sich einig, dass die Essstörung zeitweise all ihre Gedanken und Gefühle bestimmte. Clara Fischer beschreibt es so, dass alles rund um Essen und Essverhalten „wenn es schlimm ist, oder wenn es stark ist, so einen Platz einnimmt und man wirklich nur noch daran denkt, oder wirklich nur noch das will.“ Einige nennen das, was sie erlebten, einen „Tunnelblick“: Die Gedanken und Gefühle rund um das Essen und Essverhalten werden zum „einzigen Lebensinhalt“, der vom Aufstehen bis zum Schlafengehen alles bestimmt. Viele erzählen, wie schwierig es in solchen Phasen sein kann, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Manche beschreiben vor allem den ständigen Hunger als Ablenkung, andere erzählen, dass sie in Gedanken ständig mit dem Essen bzw. Nicht-Essen beschäftigt waren. Das führte bei vielen zumindest über bestimmte Zeiträume dazu, dass sie Hobbies und Freundschaften vernachlässigten oder aufgaben, und dass sie kaum noch ihrer Arbeit, der Schule oder dem Studium nachgehen konnten (siehe Alltag mit der Essstörung). Manche sehen eine Ursache oder einen „Sinn“ der Essstörung darin, dass sie sie von anderen, schwierigen Dingen im Leben ablenkte.
Die Essstörung war für Stefanie Peters ein ständiger Begleiter, der sie von allem anderen ablenkte.
Gefühle in der Essstörung
Viele unserer Erzählerinnen sagen, dass die Essstörung auf ganz unterschiedliche Weise Einfluss auf ihre Gedanken und Gefühle nahm. Folgende Zusammenhänge schildern sie, die sie zumindest zeitweise erlebten:
- Die Essstörung „macht“ gute Gefühle (z.B. wird das Hungern als Kick beschrieben; Essanfälle werden mit einem Gefühl von „Fülle“ verbunden; Essen-Brech-Anfälle werden als Möglichkeit zur Entspannung geschildert, es wird von Triumphgefühlen bei der Entsagung vom Essen erzählt)
- Die Essstörung hilft, mit schlechten Gefühlen und schwierigen Situationen umzugehen (z.B. wird die Essstörung als Ablenkung von schwierigen Lebenssituationen geschildert; das Hungern wird als Möglichkeit zur Selbstbetäubung beschrieben).
- Die Essstörung „macht“ schlechte Gefühle (z.B. wird von Selbsthass und Selbstzweifeln aufgrund der Essstörung erzählt; es wird beschrieben, dass das Hungern depressiv macht; manche erzählen von Ekel vor sich selbst, insbesondere aufgrund von Ess-Brech-Anfällen)
Die Erzählerinnen machen deutlich, dass die Essstörung für sie während der akuten Zeiten durchaus positive, erstrebenswerte Seiten hatte. Sie erzählen beispielsweise, dass sie es gut fanden, Aufmerksamkeit zu bekommen, oder dass sie sich stark und unabhängig fühlten. Manche erlebten das nicht-Essen, das unkontrollierte „Fressen“ bzw. das Erbrechen zumindest zeitweise als Erleichterung. Katharina Wagner benennt den Zustand während eines Essanfalls: „Dieses Maßlose, jetzt muss ich nicht funktionieren, jetzt darf ich einfach.“ Zudem gibt es Erzählerinnen, die in Nachhinein sagen, dass die Essstörung eine innere Leere ausfüllte oder sie von anderen Problemen abgelenkte. Helene Weber betont, dass die Essstörung zunächst eine „Universalstrategie“ zu sein scheint, „wenn man mit seinem Leben unzufrieden ist. Weil wie gesagt, man bekommt alles: Man hat Kontrolle, Sicherheit und Erfolgserlebnisse.“ Für Anna Lange ist im Nachhinein klar, dass die Probleme rund ums Essen noch für etwas Anderes standen: „Essen war immer mehr als nur Essen.“ Einige nennen diese Aspekte auch als Grund, warum es so schwierig ist, die Essstörung wieder „aufzugeben“.
Immer wieder betonen die Erzählerinnen jedoch auch, wie schlecht sie sich in akuten Zeiten mit sich selbst fühlten. Viele beschreiben die ständige Angst, zu viel oder das Falsche zu essen. Sie erzählen von Selbstzweifeln und Selbsthass, von Tagen, die sie im Bett verbrachten, um nicht essen zu müssen. Fast alle kennen Phasen, in denen jedes Gefühl mit dem Thema Essen bzw. nicht-Essen verbunden ist. Häufig wird geschildert, dass die Essstörung mit Schuldgefühlen und Scham einherging. Einige sprechen – insbesondere im Zusammenhang mit Ess-Brech-Anfällen – davon, wie sehr sie sich vor sich selbst ekelten. Clara Fischer beschreibt es so: „Das hat was [zu tun] mit sich-klein-fühlen. Mit sich eklig fühlen. Mit was Ekliges machen. Wer macht das schon, sich selbst erbrechen wollen? Das ist schon sehr schambehaftet.“ Lena Huber erzählt, dass die Ess-Brech-Anfälle bei ihr regelmäßig zu einem schlechten Gewissen führten: „wenn ich zum Beispiel einkaufen war und zu viel Geld dafür ausgegeben habe. Weil ich dann genau wusste: Im Prinzip spüle ich das Geld wieder das Klo runter.“
Es gibt auch Erzählerinnen, die schildern, dass sie in den akuten Zeiten der Essstörung zumindest phasenweise gar nicht mehr viel dachten und fühlten. Sie beschreiben sich und ihr Erleben als „abgestumpft“, „tot“ oder „taub“. Katharina Wagner beschreibt, dass bei ihr durch die Essstörung eine „Isoliertheit vom Leben“ und eine „Willenlosigkeit“ entstanden. Sabine Heidmann merkte im Nachhinein, dass sie in der Essstörung nicht mehr Lachen konnte, sie hatte „keine Kraft mehr, fröhlich zu sein“. Tanja Zillich erinnert sich, mit ihren „wenigen Kilos“ in der Essstörung „keinen gescheiten Gedanken mehr zusammengekriegt“ zu haben. Manche schildern, dass das Untergewicht selbst zu diesem Zustand führte. Petra Kessler betont, dass sie unter einem bestimmten Gewicht nicht therapiefähig ist, da sie nichts mehr richtig mitbekommt oder versteht. Andere vermitteln, dass sie dieses Gefühl von Leere schon vor der Essstörung hatten. Bisweilen wird der Zusammenhang zwischen der Essstörung und dem Taubheitsgefühl als eine Art Teufelskreis dargestellt.
Die Essstörung erzeugt bestimmte Gedanken
Manche unserer Erzählerinnen beschreiben die Essstörung als „kranke Gedanken“, die manchmal beinahe wie eine „Stimme“ waren, die sie im Kopf hatten. Die Essstörungsgedanken werden häufig als abwertend geschildert. Claudia Siebert nennt sie einen „Teufel“, der „einem über die Schulter guckt beim Essen“. Einige machen deutlich, dass es in ihnen zwei Seiten gab: Eine „gesunde“, „rationale“ Seite und die „kranke“ Seite, die sich zuwiderliefen und miteinander kämpften. Hannah Becker erzählt: „Ich konnte nicht mehr unterschieden, was wirklich richtig und falsch war, sondern ich hatte so mein eigenes Denken von richtig und falsch. Und da waren so viele Sachen falsch und so wenige Sachen richtig.“ Manche erzählen, dass diese Essstörungsgedanken sie sehr lange begleiteten.
Die Essstörung und Lebensmüdigkeit
Manche unserer Erzählerinnen schildern, dass die Essstörung bei ihnen mit einem Gefühl von Lebensmüdigkeit in Zusammenhang stand. Einige erzählen, dass ihnen in akuten Zeiten ihre eigene Gesundheit egal wurde. Manche bekamen Angst um sich selbst, fühlten sich aber nicht mehr stark genug, um Hilfe zu suchen, oder beschreiben, dass sie trotzdem nicht essen konnten. Viele erzählen, dass ihre Lebensfreude im Verlauf der Erkrankung immer weiter abnahm, manche sagen sogar, dass sie ihren eigenen Tod zeitweilig eher in Kauf genommen hätten, als die Essstörung „aufzugeben“. Claudia Siebert beschreibt die Essstörung als „graduellen Selbstmord“. Heike Papst war manchmal so verzweifelt, dass sie kurz davor stand, sich umzubringen. Andere sehen die Essstörung eher als Ausdruck ihrer schon länger bestehenden Lebensmüdigkeit, manche sehen sie als eine Form von selbstverletzendem Verhalten an. Viele der Erzählerinnen vergleichen sie in ihren selbstzerstörerischen Aspekten mit einer „Sucht“: Sie erzählen, dass sie alle negativen Folgen kennen, und sich in akuten Zeiten dennoch nicht in der Lage sehen, damit „aufzuhören“.
Gefühle von Kontrolle und Kontrollverlust
Für viele der Erzählerinnen hat die Essstörung etwas mit Gefühlen von Kontrolle und Kontrollverlust zu tun. Manche erzählen, dass es ihnen ein Gefühl von „Kontrolle“, „Sicherheit“ oder „Struktur“ im Leben gab, wenn sie das Essen kontrollierten: „Ich mache mein Ding, lasse mir nicht reinreden.“ Viele machen einen Unterschied zwischen einzelnen Phasen ihrer Essstörung: Das Einschränken von Essen bzw. Hungern bringen viele Erzählerinnen eher mit Kontrollgefühlen und „Disziplin“ in Zusammenhang, wohingegen sie Essanfälle und Erbrechen eher als Kontrollverlust schildern. Einige erzählen, dass sie permanent Angst vor diesem Kontrollverlust haben. Manche erleben die Essstörung selbst – also auch das Einschränken von Essen – als Kontrollverlust. Brigitte Meyer betont, dass es ihr peinlich ist, gegenüber der Krankheit so machtlos zu sein, sie nicht steuern zu können.
Viele der Erzählerinnen beschreiben, dass die Fixierung von Gedanken und Gefühlen auf die Essstörung immer stärker zunahm, je mehr sie ins Untergewicht kamen. Häufig war dann erst einmal professionelle Hilfe notwendig, um eine Besserung zu erreichen (siehe Erfahrungen mit Ärzten, Ambulante Psychotherapie, Stationäre Klinikaufenthalte, Ergänzende Unterstützung). Beinahe alle Erzählerinnen haben die Erfahrung gemacht, dass in dem Maße, in dem ihr Essverhalten sich normalisierte, auch das ständige innere Kreisen um die Inhalte der Essstörung abnahm. Einige sagen, dass Essen und Körpergewicht für sie inzwischen nur noch selten eine besondere Rolle spielen und empfinden dies als sehr große Erleichterung.