Abnehmen, Essanfälle, Erbrechen
All unsere Erzählerinnen kennen Schwierigkeiten mit dem Essen und den starken Drang, das eigene Körpergewicht zu kontrollieren. Sie leiden aktuell oder litten in der Vergangenheit an einer Essstörung, genauer einer Anorexia nervosa, einer Bulimie/ Bulimia nervosa, an einer Mischform oder einer Essstörungsform, in der nicht alle typischen Merkmale vorliegen (sogenannte „nicht näher bezeichnete Essstörungen). Unsere Erzählerinnen haben Erfahrungen gemacht mit:
- Essen einschränken/ Hungern
- Kalorien zählen
- Essanfällen
- Verschiedenen Maßnahmen, Essen zu verringern bzw. Kalorien loszuwerden, wie:
- Selbst herbeigeführtes Erbrechen
- Exzessives Sporttreiben
- Gebrauch von Abführmitteln
Die Essstörung kann sich immer wieder verändern
Unsere Erzählerinnen schildern, dass sich immer wieder verändern kann, wie die Essstörung genau abläuft, was dabei im Vordergrund steht und wie stark. Manche der Erzählerinnen haben mit all den oben genannten Aspekten von Essstörungen schon einmal mehr oder weniger ausgeprägte Erfahrungen gemacht, andere haben nur eine Variante erlebt. Viele haben Essen und Gewicht über lange Zeit, teilweise mit Unterbrechungen, immer wieder auf unterschiedliche Weise als problematisch erlebt.
Claudia Siebert hat unterschiedliche Formen der Essstörung erlebt.
Bei manchen gab es ständige Gewichtsschwankungen, wie bei Clara Fischer, die erzählt: „Die ersten Jahre war es aber eher so mit sich Kontrollieren, […] und dann ist es so dann wirklich total ins Gegenteil umgeschlagen und ich habe ganz schnell, ganz viel zugenommen auch. […] So ging es dann eigentlich weiter die nächsten Jahre also entweder zugenommen, abgenommen, zugenommen, abgenommen“. Einige unserer Erzählerinnen begleitet die Essstörung schon seit vielen Jahren.
Was passiert in der Essstörung?
Alle unsere Erzählerinnen hatten Phasen, in denen sie ihre Nahrungsaufnahme einschränkten oder sogar über lange Zeit hungerten (siehe Beginn der Essstörung). Einige machen deutlich, wie ihr Wunsch, die Aufnahme von Nahrung bzw. von Kalorien zu begrenzen, nach und nach fast „bizarre“ Formen annahm. Hanna Becker erzählt, dass es bei ihr schließlich darum ging, ein Stück Apfel mehr oder weniger zu essen. Im Nachhinein finden es einige der Erzählerinnen kaum zu glauben, wie sehr sie sich eingeschränkt haben. Manche erzählen, dass es für sie überhaupt nicht mehr möglich war (oder ist), bestimmte Lebensmittel zu essen.
Hannah Becker erlebte nach dem Essen immer stärkere Schuldgefühle und aß immer weniger.
Viele der Interviewten erlebten Phasen, in denen sie für alles was sie aßen die Kalorienmenge ausrechneten. Alexandra Jung drückt es so aus: „Ich sehe Essen teilweise nicht mehr im eigentlichen Wert und nicht das, was das Essen eigentlich ist. Sondern ich sehe es in Zahlen.“ Einige der Erzählerinnen berichten, dass sie genaue Listen über ihre Kalorienaufnahme führten und sich immer neue Grenzen setzten. Viele von ihnen nutzen Kalorienzähler im Internet, Stefanie Peters informierte sich auf einem speziellen Internetforum darüber, wie wenig Kalorien andere zu sich nahmen und fühlte sich dadurch angespornt.
Einige unserer Erzählerinnen beschreiben Essanfälle, bei denen sie sehr große Mengen an Essen in sehr kurzer Zeit zu sich nahmen. Häufig sprechen sie selbst von „Fressen“. Bei allen ging den Essanfällen zumindest eine kurze Phase des Hungerns oder massiven Einschränkens von Essen voraus. Viele erzählen davon, dass sie die Essanfälle verheimlichten und Orte aufsuchten, an denen sie unbeobachtet „alles verschlingen“ konnten (siehe Verheimlichen und Tricksen). Manche planten ihre Essanfälle genau, andere horteten über lange Zeit Lebensmittel und gaben sich dann in bestimmten Momenten dem Essanfall hin. Viele beschreiben die Essanfälle als einen massiven Kontrollverlust, einen „Fresstaumel“, einen kaum zu bändigenden „Drang“, eine „Sucht“ oder einen „Wahn“. Die Gedanken können völlig von dem Wunsch nach Essen vereinnahmt sein. Laura Brunner aß manchmal das Essen ihrer Mitbewohner auf.
Sophia Gesinger erzählt, dass während eines Essanfalls alles andere unwichtig wurde.
Carina Wintergarten beschreibt die Essattacke wie eine Sucht nach Zigaretten.
Unabhängig davon, ob sie ausschließlich ihr Essen einschränkten oder ob sie auch Essanfälle erlebten, berichten unsere Erzählerinnen von Strategien, um Essen bzw. Kalorien „loszuwerden“. Einige erlebten Phasen, in denen sie sich selbst dazu brachten, Essen zu erbrechen. Sehr häufig erlebten sie das Erbrechen in Zusammenhang mit vorhergegangenen Essanfällen – viele beschreiben einen richtigen Kreislauf von „Fressen und Erbrechen“. Sophia Gesinger dachte lange Zeit, sie könne mit dem Erbrechen einfach wieder aufhören, doch im Gegenteil wurde es schnell immer häufiger. Andere begannen, immer exzessiver Sport zu treiben oder benutzten Abführmittel, um die aufgenommene Nahrung „loszuwerden“.
Katharina Wagner findet es schwierig, in Maßen zu essen und nicht zu erbrechen.
Sophia Gesinger ekelt sich vor dem Erbrechen, hält es jedoch nicht aus, es zu lassen.
Manche der Erzählerinnen, die sowohl Phasen hatten, in denen sie ihr Essen stark einschränkten, als auch Phasen von Essanfällen mit Erbrechen, beschreiben, dass sie einen extremen Wechsel erlebten: Das Einschränken von Essen war für sie mit Kontrolle, Stolz und Selbstbeherrschung verbunden, das Fressen und Erbrechen mit einem massiven Kontrollverlust, Ekel und Selbsthass. Viele merkten erst im Nachhinein, welche massiven Folgen ihr Essverhalten auf ihre körperliche Verfassung, ihre Gefühlswelt und ihren Alltag mit Anderen hatte (siehe Körperliche Folgen, Gedanken und Gefühle in der Essstörung, Auswirkungen auf den Alltag).
Die Essstörung beeinflusst das ganze Leben
Einige der Erzählerinnen berichten, wie viel Zeit am Tag sie für Planung von Essen investieren. Damit einher ging bei einigen auch ein zunehmender Verlust von Flexibilität im ganzen Leben (siehe Alltag mit der Essstörung). Einige Erzählerinnen, die in der Essstörung hauptsächlich ihr Essen einschränkten, beschreiben, dass dabei das Gefühl von Kontrolle eine entscheidende Rolle spielt: Kontrolle über das Essen, aber auch über Gefühle oder das eigene Leben ausüben zu wollen (siehe Gedanken und Gefühle in der Essstörung). Viele unserer Erzählerinnen betonen, dass sie neben der Essstörung noch mit anderen psychischen Erkrankungen oder Problemen zu kämpfen hatten: insbesondere Zwänge und Depressionen, aber auch Süchte, Schlafstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Ängste und Panikstörungen. Häufig verstärkten sich die Essstörung und die Schwierigkeiten in den anderen Bereichen sich gegenseitig – eine Depression wurde beispielsweise durch das Untergewicht schlimmer, erschien jedoch gleichzeitig auch als ein Grund für die Essstörung.
Hannah Becker erzählt, dass mit der Essstörung irgendwann ihr ganzes Leben unflexibel wurde.
Bei der Essstörung geht es um mehr als um Essen und die Figur
Die Erzählerinnen machen deutlich, dass die Essstörung für sie nicht nur mit Gewichtskontrolle und Abnehmen oder einem bestimmten Schönheitsideal zusammenhängt. Sie beschreiben ein viel komplexeres Geschehen, bei dem ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen: Kontrolle, Umgang mit Gefühlen, Zwänge, familiäre und anderen lebensgeschichtliche Erfahrungen, Essgewohnheiten und vieles mehr. Viele unserer Erzählerinnen haben erlebt, dass sich während der Essstörung ihre Gedanken und Gefühle veränderten (siehe Gedanken und Gefühle in der Essstörung). Sophia Gesinger erzählt, dass die Essstörung etwas war, das in ihrem Leben wenigstens funktionierte, als sie das Gefühl hatte, über die anderen Bereiche keine Kontrolle zu haben.