Erfahrungen mit Ärzten

Erster Ansprechpartner bei einer Essstörung ist häufig eine Ärztin oder ein Arzt. Entsprechend berichten unsere Erzählerinnen auch von verschiedensten Erfahrungen mit Medizinern. Manchmal waren es die Betroffenen selbst bzw. ihre Angehörigen (meist deren Eltern), die irgendwann merkten, dass etwas nicht in Ordnung ist und einen Arzt aufsuchten (siehe Das Problem erkennen). In einigen Fällen bemerkte ein Arzt bei einer Vorsorgeuntersuchung oder bei Untersuchungen wegen anderer Erkrankungen die Essstörung. Viele unserer Gesprächspartnerinnen berichten, dass sie sich lange Zeit nicht klar machten, wie krank sie eigentlich waren (oder sind), und erst dann einen Arzt aufsuchten, als es ihnen schon richtig schlecht ging. Andere sagen, dass sie zwar wussten, dass etwas nicht in Ordnung ist, ihre Erkrankung aber lange Zeit überspielten, die Sorge der Ärzte abwehrten oder sogar vermieden, überhaupt zum Arzt zu gehen. Sie erzählen, dass sie nicht auf mögliche Probleme angesprochen werden wollten und Nachfragen aktiv aus dem Weg gingen. Brigitte Meyer schildert, dass sie sich sehr über eine Bemerkung einer Zahnarzthelferin über ihr geringes Gewicht ärgerte. Manchmal sind es solche „Kleinigkeiten“, die dazu führen, dass der Arzt dann nicht mehr aufgesucht wird.

Einige erzählen allerdings auch, dass der Arzt, bei dem sie waren, den Gewichtsverlust anfangs nicht ausreichend ernstnahm. Er wurde auf das Wachstum oder die Pubertät geschoben oder als nicht besorgniserregend eingestuft. Manchmal beschreiben unsere Gesprächspartnerinnen eine Art gemeinsames Vermeiden: Sie selbst wiegelten ab und wichen aus, der Arzt akzeptierte das und schaute seinerseits nicht so genau hin. Sie denken im Nachhinein, dass sich die Essstörung gerade deswegen auch über lange Zeit aufbauen und verfestigen konnte. Diejenigen unter unseren Erzählerinnen, die ihre Essstörung schon sehr lange haben, berichten, dass das Krankheitsbild früher noch nicht so bekannt war, und die Ärzte es vielleicht deshalb übersahen. Einzelne sagen sogar, dass eine frühere Bemerkung eines Arztes über ihr zu hohes Gewicht zu der Entwicklung der Essstörung beitrug. Manche Erzählerinnen beschreiben aber auch sehr dankbar, wie ein Arzt erkannte, dass es ihnen nicht gut ging, und dass er „dranblieb“ und immer wieder nachhakte. Das vermittelte ihnen das Gefühl, dass es ihm wichtig ist, wie es ihnen geht.

Manche unserer Erzählerinnen berichten, dass sie sich von ihren Ärzten nicht verstanden fühlten. Alexandra Jung ärgerte sich über ihre Psychiaterin, die ihr eine Depression diagnostizierte und ein Medikament dagegen verschrieb. Sie war nicht einverstanden und ging deswegen auch nicht mehr hin. Andere erzählen, dass es ihnen nicht gefiel, dass die Ärzte ihnen nur sagten, sie sollen zunehmen, und keine wirkliche Unterstützung anboten. Immer wieder beschreiben Betroffene, wie solche Missstimmungen dann zu einem Arztwechsel führten. Manchmal half der Neustart bei einem anderen Arzt dann dabei, die Essstörung gleich von Anfang an offen anzusprechen und aktiv Hilfe zu suchen.

Viele Betroffene sind aber auch sehr dankbar für die Betreuung durch ihre Ärzte und sagen, dass sie dort das bekommen, was sie brauchen. Auch die Klinikaufenthalte wurden oft durch einen Hausarzt angeregt. Dabei sagen manche, dass es für sie wichtig war, dass der Arzt ihre Problematik nicht „dramatisierte“, sondern ihnen Zeit ließ. Für andere war es gerade wichtig, dass der Arzt als Autorität zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Machtwort sprach und nachdrücklich weitere Behandlungen einleitete. Brigitte Meyer erzählt, dass sie sich bei ihrem Hausarzt gut aufgehoben fühlt; er kümmert sich darum, dass sie rasch einen Termin beim Facharzt bekommt, nimmt ihre Sorgen ernst und reagiert darauf. Das gibt ihr Halt und sie fühlt sich nicht alleine gelassen. Auch andere berichten von einer guten Zusammenarbeit mit ihrem Hausarzt, der sie unterstützt und begleitet. So beschreiben die meisten unserer Erzählerinnen die Ärzte trotz mancher schwierigen Erfahrung als wichtige Ansprechpartner in ihrem Alltag mit einer Essstörung.