Botschaften an Fachleute
Die Erzählerinnen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Fachleuten gemacht (siehe Erfahrungen mit Ärzten, Ambulante Psychotherapie, Stationäre Klinikaufenthalte, Ergänzende Unterstützung). Manches an professioneller Hilfe schildern sie als sehr unterstützend, anderes als schwierig und kränkend. In den Erzählungen wird eine starke Spannung deutlich: Die Betroffenen finden in sich häufig eine Seite, die dringend Hilfe und Unterstützung im Umgang mit der Essstörung sucht, und eine andere Seite, die der Essstörung möglichst „in Ruhe“ weiter nachgehen will. Viele sprechen sich daher für sehr individualisierte Hilfe aus: Sie finden es entscheidend, die Person zu sehen, die die Erkrankung hat, und nicht nur die Erkrankung nach einem bestimmten Schema zu behandeln. Es wird auch betont, dass Hilfe nicht immer gut angenommen werden kann, und deshalb nachdrückliche Nachfragen und Angebote manchmal notwendig sind.
Manche Erzählerinnen machen sich Gedanken, wie Betroffene von Fachleuten am besten angesprochen werden könnten. Wie können diese sinnvollerweise reagieren, wenn ihnen auffällt, dass jemand massiv ab- oder zugenommen hat, wenig isst, oder wenn sonstige Essprobleme vermutet werden? Die Erzählerinnen sprechen sich dafür aus, nicht mit der Tür ins Haus fallen – sie halten es für wirkungsvoller, offen zu fragen, wie es der Person geht, und Unterstützung anzubieten. Zugleich sprechen sich manche für schonungslose Offenheit und Konfrontation aus, insbesondere, wenn zu befürchten ist, dass die Erkrankung schon weiter fortgeschritten ist.
Zugleich räumen einige Erzählerinnen ein, dass man sich in einer Essstörung sehr abschottet. Eigentlich „richtige“ oder gute Angebote werden nicht akzeptiert, weil ein Teil einfach nicht zunehmen/gesunden/ etwas ändern will. Stefanie Peters macht ihrem Arzt keinen Vorwurf, sie nicht ernst genug genommen zu haben, da sie selbst das Ganze überspielte. Sophia Gesinger hätte sich gewünscht, dass ihr Hausarzt etwas mehr nachgefragt und auf das Wiegen bestanden hätte.
Erzählerinnen berichten davon, dass ihnen das Gefühl wohltat (bzw. sie es manchmal schmerzlich vermissten), von Ärzten und Therapeuten respektiert, angenommen und gesehen zu werden: Nicht nur mit ihrem Gewicht und den Problemen, sondern mit all ihren Fähigkeiten, gesunden Anteilen, Sehnsüchten und dem schon Erreichten. Tanja Zillich erzählt, dass sie sich bei einem lang zurückliegenden Klinikaufenthalt auf ihre Krankheit reduziert fühlte: „Man ist neben der Rolle, aber man hat auch die lichten Momente. […] Ich habe Angst vor einem Stück Butter – ist Irrational. Aber ich habe auch andere Qualitäten!“ Carina Wintergarten schlägt vor, dass Ärzte in einer Patientin weniger einen typischen Fall aus dem Lehrbuch sehen sollten, sondern mehr die individuelle Person mit ihrer Geschichte. Beispielsweise könnten mit einer solchen Haltung bestimmte Sport- oder Essenswünsche berücksichtigt werden, ohne dass sie therapiegefährdend sein müssten.
Glaubwürdigkeit und Empathie sind für viele Erzählerinnen wesentliche Qualitäten, die sie sich von ihren Begleitern/ Behandlern wünschen, insbesondere, weil sich essgestörte Menschen selbst schon genug abwerten. Einige Erzählerinnen fanden diese Qualitäten eher bei anderen Betroffenen und in Selbsthilfegruppen als bei Therapeuten, und profitierten sehr davon (siehe Andere Betroffene und Selbsthilfegruppen).
Einige Erzählerinnen beklagen eine starke Fokussierung auf das Gewicht und das Zunehmen: Sie beschreiben, wie schmerzlich und bedrohlich sie den Prozess des Zunehmens erlebten, und dass „Kopf und Inneres“ Zeit bräuchten, um hinterher zu kommen. Manche hätten sich gewünscht, in diesem Prozess mehr motiviert und an die Hand genommen zu werden. Sie wünschen anderen Betroffenen glaubwürdige Behandler, die ihnen Mut machen.
Gewichtsvereinbarungen oder das häufig geforderte Eingangsgewicht in Kliniken oder für ambulante Psychotherapien bewerten Erzählerinnen unterschiedlich: Petra Kessler beklagt, dass diejenigen, die aufgrund von starkem Untergewicht nicht zu einer stationären Behandlung bereit sind, allein gelassen werden. Für andere stellt ein vereinbartes Gewicht eine Motivation dar, um beispielsweise in einer Wohngruppe aufgenommen zu werden oder um in der Klinik mitzuarbeiten. Sophia Gesinger wundert sich, dass sie beide Male in der Klinik mit ihrer Bulimie unbemerkt abnehmen konnte und hätte sich gewünscht, dass jemand mehr darauf geachtet hätte.
Essenspläne, gemeinsames Kochen und Ernährungsberatung beschreiben einige Erzählerinnen als extrem wichtig. Es half ihnen, sich zu informieren und zu orientieren, wie normales Essverhalten aussieht, und um bei starkem Untergewicht überhaupt erst einmal wieder in einen gesünderen Gewichtsbereich zurückzufinden. Ebenso empfehlen einige Erzählerinnen das Aufklären über gesundheitliche Risiken, Hintergründe einer Essstörung und weitere Psychoedukation, sowie Körpertherapien.
Viele Erzählerinnen finden einen begleiteten Übergang von der Klinik in den Alltag entscheidend, da sie die Gefahr von Rückfällen und Überforderungen sehen. Die Erzählerinnen schlagen ambulante Psychotherapie, eine Notfallhotline aber auch ambulante Kochangebote vor, um stationäre Angebote wirksamer zu machen.