Soziales Leben

Viele unserer Interviewpartnerinnen erzählen, dass sich ihr gesamtes soziales Leben durch die Essstörung stark veränderte. Das zeigt sich sowohl in Freundschaften und Familie (siehe Familie, Partnerschaft, Kinder) als auch in alltäglichen sozialen Kontakten in der Schule oder an der Arbeitsstelle. Viele Erzählerinnen beschreiben, dass gemeinschaftliche Aktivitäten mit den festen Routinen der Essstörung nicht zusammenpassten (siehe Alltag mit der Essstörung). Hinzu kommt, dass gemeinsame Unternehmungen häufig mit gemeinsamen Essen verbunden sind. So beschreiben viele Erzählerinnen, dass ihnen das gemeinsame Essen nicht mehr möglich war und sie durch ihr Nicht-Mitessen sozial nicht mehr so gut integriert waren (siehe Essen im Alltag und mit anderen). Viele Erzählerinnen beschreiben, dass sie versuchten, die Essstörung geheim zu halten. Dieses „Doppelleben“, wie es manche Erzählerinnen nennen, führte zu dem Gefühl, isoliert zu sein (siehe Verheimlichen und Tricksen). Viele erzählen, dass sie sich mit der Zeit immer mehr zurückzogen.

Neben diesen Veränderungen, die mit dem Essverhalten zusammenhingen, beschreiben viele auch, dass sich das eigene Befinden im Zusammensein mit anderen änderte. So schildern einige Erzählerinnen, dass auch ihr Bedürfnis nachließ, mit anderen zusammen zu sein. Sie erzählen, dass sie sich wohler fühlten, wenn sie alleine waren. Manche Erzählerinnen sagen, dass sie sehr empfindlich wurden und lockere Bemerkungen nicht mehr lustig finden konnten. Sie fühlten sich in der Schule oder Bekanntenkreis nicht verstanden und leicht verletzt.

Viele Interviewpartnerinnen erzählen, dass sie zwar am Liebsten alleine waren, weil sie dann vor niemandem etwas verbergen oder erklären mussten, gleichzeitig jedoch unter der Isolation litten und sich einsam fühlten. Katharina Wagner erzählt, dass sie vieles über Essstörungen gelesen oder auch Filme gesehen hatte, dort jedoch nicht gezeigt wurde, wie es ist, keine Freunde mehr zu haben.

Gesellschaft als Unterstützung

Neben den Schilderungen von sozialem Rückzug gibt es jedoch auch einige Interviewpartnerinnen, die beschreiben, dass es für sie hilfreich ist, mit anderen zusammen zu sein. Gesellschaft stellt für sie eine Möglichkeit zur Ablenkung von der Beschäftigung mit dem Essen dar. Einige versuchten deshalb, möglichst viel Zeit mit anderen zu verbringen.

 

Freunde

Auch Freundschaften können sich durch die Essstörung verändern. Einige Interviewpartnerinnen konnten ihren Freundeskreis aufrechterhalten. Sie waren gerne viel unterwegs, um sich vom Essen abzulenken. Viele Interviewpartnerinnen erzählten jedoch, dass sie mit der Zeit immer mehr Freunde verloren. Sie berichten, dass sie sich immer mehr zurückzogen und auch ihr Interesse an den anderen nachließ und so der Anschluss verlorenging. Für die Freunde war die Bedeutsamkeit des Themas Essen oft nicht nachvollziehbar und sie fanden es anstrengend, so viel darüber zu sprechen. Einige Interviewpartnerinnen erzählen, dass sie eine enge Freundin hatten, die von der Essstörung wusste und die sich sehr um sie kümmerte, bis es für sie zu viel wurde und die Freundschaft daran zerbrach. Bei anderen waren lange Klinikaufenthalte und Klassenwechsel ein Grund, warum Freundschaften verloren gingen. Katharina Wagner bedauert, dass sie keine engen Jugendfreunde hat, wie sie es von anderen kennt, da ihre Jugend von der Essstörung bestimmt war.

Im Zusammenhang mit Freundschaften beschreiben viele Interviewpartnerinnen auch Schuld- oder Schamgefühle. Manche erzählen, dass sie sich nach Essanfällen vor sich selbst ekelten und das Gefühl hatten, so nicht in Gesellschaft gehen zu können. Andere berichten, dass es ihnen im Nachhinein leidtat, dass sie so mit Essensgedanken beschäftigt waren, dass sie anderen nicht zuhören konnten. Auch die vielen Ausreden und Absagen bedauern die Interviewpartnerinnen (siehe Verheimlichen und Tricksen). Sie erzählen, dass es für sie oft nicht möglich war, die Gründe zu erklären. Hannah Becker sagt, dass sie im Nachhinein Schuldgefühle gegenüber ihrer Freundin empfindet, weil sie diese ausgenutzt habe. Sie erzählt, wie sie nur ihr „Ding gemacht“ machte und völlig ausblendete, wie das für ihre Freundin war. Heute hat sie das Gefühl, ihr viel zu schulden.

Laura Brunner hat sich nach und nach von ihren Freunden zurückgezogen.

 

Jugend mit der Essstörung und verpasste Zeiten

Bei den meisten unserer Erzählerinnen begann die Essstörung im Alter zwischen 11 und 16 Jahren. Sie prägte somit ihre Jugend mit allem, was dazugehört: Freundschaften, erste Liebe, Loslösen vom Elternhaus, Neues ausprobieren und Pubertät.
Einige Interviewpartnerinnen erzählen, dass sie das Gefühl haben, durch die Essstörung ihre Jugend oder Pubertät verpasst zu haben. Sie beschreiben, dass vieles an ihnen vorbeiging, was andere in dieser Zeit erlebt haben, weil die Essstörung so viel Raum einnahm. Manche beschreiben, dass sie später einen Teil davon nachholen konnten, wie z.B. in die Disco gehen und Motorrad fahren. In bestimmten sozialen Situationen, in denen gerne Geschichten aus der Jugend erzählt werden, fühlen sich einige Interviewpartnerinnen ausgeschlossen. Laura Brunner erzählt, dass es ihr schwerfällt, etwas aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, das nicht mit der Magersucht zu tun hat. Und niemand wolle eine Geschichte hören, die anfängt mit dem Satz: „Als ich so dünn war, dass ich keine Kraft mehr für irgendwas hatte…“

 

Reden über die Essstörung und Reaktionen anderer

Die meisten Interviewpartnerinnen erzählen, dass sie versuchten, ihre Essstörung vor anderen zu verheimlichen (siehe Verheimlichen und Tricksen). Einige hatten wenige Freundinnen, Elternteile oder Geschwister eingeweiht. Bei manchen wusste der Freundeskreis Bescheid, häufig aber nicht über alles. Eine Interviewpartnerin erzählt, dass sie erst Jahre später darüber reden konnte, als sie für sich selbst verarbeitet hatte, was passiert war.

Die Reaktionen aus dem Umfeld beschreiben unsere Erzählerinnen sehr unterschiedlich: Einige erlebten, dass sie nie direkt auf die Essstörung angesprochen wurden. Stattdessen wurden ihre Eltern oder Freunde angesprochen. Andere beschreiben, dass die Blicke der anderen zeigten, dass etwas nicht stimmt. Viele Erzählerinnen berichten, dass sie einerseits wünschten, dass andere wahrnehmen, dass etwas anders ist und nachfragen, andererseits die Fragen und Blicke unangenehm waren. Petra Kessler beschreibt, dass sie dachte, nichts zu essen mache sie wichtiger und es würden Fragen dazu von anderen gestellt. Als diese ausblieben, war sie enttäuscht. Für einige ist die Erfahrung, nicht immer auf das Dünnsein angesprochen zu werden, nachdem sie nun wieder ein Normalgewicht haben, eine Erleichterung.

Einige Interviewpartnerinnen erzählen, dass sie merkten, dass ihr körperlicher Zustand für andere bedrohlich war. So erzählt Tanja Zillich, dass die Freunde selbst die Situation nicht mehr ertragen konnten und mit „Pauschalsätzen“ reagierten wie „Jetzt hab dich mal im Griff“.

Für viele war die Erfahrung, dass alle das Essen kommentierten oder immer wieder Essen anboten sehr unangenehm (siehe Familie, Partnerschaft, Kinder und Essen im Alltag und mit Anderen). Anna Lange beschreibt, dass sie sich dadurch angegriffen und unverstanden fühlte.

 

Neue Strategien

Heute stehen viele unserer Erzählerinnen vor einer neuen Situation: Sie haben sich weiterentwickelt mit der Essstörung, und viele begannen einen Neustart in ihrem Leben. Einige beschreiben, dass sie gerne von vorne anfangen und von ihrem Umfeld nicht (immer) mit der Krankheit verbunden werden wollten. Bei manchen Interviewpartnerinnen waren die Beziehungen durch Konflikte rund um die Essstörung sehr belastet und sie erleben den Umgang mit neuen Freunden als einfacher. Einige beschreiben es als Erleichterung, dass man ihnen nicht mehr sofort ansieht, dass etwas nicht stimmt.

Gleichzeitig ist die Essstörung etwas, das für viele immer noch ihr Leben prägt. Sie versuchen, Wege zu finden, dies an andere zu vermitteln, z.B. wenn es um das gemeinsame Essen geht. Clara Fischer erzählt, dass sie in Momenten, in denen sie innerlich mit dem Thema Essen beschäftigt ist, laut äußert: „ich brauche gerade einen Moment für mich.“ Dann ist es für die anderen besser nachvollziehbar, dass sie gerade nicht zuhört.